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Ältere Flüchtlinge im Abseits
[Marion Kremla, April 2003] |
Ältere Flüchtlinge,
die es bis in die EU-Länder schaffen, sind eine kleine
Gruppe. An ihrem Beispiel lassen sich jedoch die differenzierten
Bedürfnisse von Flüchtlingen und strukturelle Versorgungslücken
zeigen.
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Übersicht
Existenzsicherung |
"Jeder Flüchtling fängt bei Null an." So
fasst eine Georgierin, nach vierjähriger Fluchtgeschichte,
ihre von Millionen geteilte Erfahrung zusammen. Zu ergänzen
wäre: Es ist nicht egal, in welchem Alter Punkt Null liegt
- im Fall der zitierten Asylwerberin in ihrem 51. Lebensjahr.
Klar, dass sie, die sich bereits eine Existenz aufgebaut und
eine Familie gegründet hatte und bereits in die zweite
Lebenshälfte übergewechselt ist, die Situation als
Flüchtling anders erlebt als die 20-Jährige im Stockbett
daneben. Wobei es nicht darum geht, welche der Beiden es "schwerer"
oder "leichter" hat. Es geht um die Unterschiede v.
a. in Bezug auf Arbeitsmarktchancen, Gesundheitszustand, sozialen
Status und Familiensituation.
Wenn nun im Folgenden von "älteren Flüchtlingen"
die Rede ist, geht es gemäß der Alterskategorien
der WHO um die Gruppe der über 60-Jährigen.
Faktor Alter
In der Betreuung älterer Flüchtlinge wird die Relativität
des herkömmlichen Integrationsbegriffs, der im Wesentlichen
bei Sprache und Arbeit ansetzt, sichtbar: Weder der vollständige
Erwerb einer Zweitsprache noch reguläre Berufstätigkeit
sind für Flüchtlinge jenseits der 50 realistisch.
Ähnlich sieht es mit dem Ziel der Rückkehr aus: Bei
Jüngeren ist punkto freiwilliger Rückkehr eine zentrale
Frage, ob die alten Wurzeln im Herkunftsland oder die neu geschlagenen
im Zufluchtsland stärker sind. Bei den Älteren aber
kommt mit der Frage, ob sich die Rückkehr in der Lebensperspektive
überhaupt noch ausgeht, und dem Wunsch, nicht in der Fremde
zu sterben, eine weitere Dimension hinzu. Flüchtlinge,
egal welchen Alters, sind zwar in erster Linie Menschen mit
völlig unterschiedlichen Lebensgeschichten, Menschen, die
massive persönliche Verluste erlitten haben und auf individuelle
Weise damit fertig zu werden versuchen. Alter ist jedoch eine
Kategorie, die diese Prozesse beeinflusst - wenn auch die Probleme,
mit denen ältere Flüchtlinge zu kämpfen haben,
strukturell die gleichen sind, wie sie auch 20- bis 40-Jährige,
die größte Altersgruppe von Flüchtlingen, erfahren.
Doch treten diese mit zunehmendem Alter noch klarer und schärfer
hervor, und damit auch die Lücken in der Versorgung.
Ältere Flüchtlinge sind unsichtbar.
Als 1998 das Jahr der Älteren ausgerufen wurde, hatte dies
auch im Flüchtlingsbereich Auswirkungen. UNHCR, das Flüchtlingshochkommissariat
der UNO, nahm den Schwerpunkt auf und investierte in Untersuchungen
und spezifische Hilfsprogramme. "Older refugees have been
invisible for too long" - ältere Flüchtlinge
sind schon viel zu lange unsichtbar -, stellte die damalige
UNHCR-Sprecherin Sadako Ogata fest. Das stimmt, zumindest aus
Perspektive der Länder mit geringen Aufnahmezahlen und
somit für alle europäischen Länder. Es stimmt
nicht aus Perspektive der am stärksten frequentierten Zufluchtsländer,
deren Flüchtlingszahlen Hunderttausende betragen.
Denn: Flüchtlinge, die schon älter sind, kommen nicht
weit. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Flüchtlinge beträgt
in den großen Flüchtlingslagern nahe den jeweiligen
Krisenregionen bis zu 40 Prozent und sinkt mit der Entfernung:
In Österreich sind es nur 3 Prozent aller AsylwerberInnen.
In der ersten Phase des Exils sind die Ältesten besonders
von der Gefahr betroffen, auf einer der Stationen der Flucht
zurückzubleiben oder nach der Ankunft im Exilland innerfamiliär
ins "Out" zu geraten.
Ein typisches Beispiel für den ersten Fall ist das Zurückbleiben
in den großen Flüchtlingscamps nahe den Krisengebieten,
während Jüngere, Kräftigere weiterwandern. Vor
allem wenn diese in als Einwanderungsländer bekannte Staaten
wie Kanada oder Australien weiterwandern, deren Richtlinien
für die Aufnahme von ImmigrantInnen am wirtschaftlichen
Potenzial der BewerberInnen orientiert sind, was bedeutet, dass
abseits von einigen humanitären Programmen schlechte Chancen
für ältere Flüchtlinge bestehen. Abgesehen von
diesem objektiven Hindernis, ist es oft die Entscheidung der
Älteren selbst, die physisch belastende Flucht mit dem
Risiko, der Familie unendlich zur Last zu fallen, nicht zu wagen.
Oder aber es sind die Familien, die entscheiden, die Alten nicht
"mitzuschleppen". Eine Untersuchung der Situation
älterer bosnischer Flüchtlinge in der Steiermark beschreibt
einen für die BetreuerInnen erschütternden Prozess
der zunehmenden Distanzierung bis hin zur Weiterwanderung der
Restfamilie.
Unterkunft und Gesundheitsversorgung.
Keine Extrawurst für niemanden - die Bundesbetreuungsrichtlinie,
die Flüchtlinge aus einer Reihe von Herkunftsländern
von Unterkunft und Gesundheitsversorgung ausschließt,
kennt keine Sonderregelungen für Ältere. Fairerweise
sollte aber betont werden, dass nach den Erfahrungen der BetreuerInnen
in der Praxis die meisten älteren Flüchtlinge dennoch
aufgrund ihres körperlichen Zustands in die Bundesbetreuung
aufgenommen werden. Das Risiko ist wohl zu hoch - denn Ausschluss
aus der Bundesbetreuung bedeutet schließlich: keine Krankenversicherung.
Verhandlungssache bleibt die staatliche Versorgung dennoch -
und damit auch ein Spielfeld für Willkürakte, was
insbesondere die Unterbringung in ländlichen Gebieten betrifft.
Anträge auf Verlegung von AsylwerberInnen im höheren
Alter, denen weder der Anmarsch zur Busstation noch die einstündige
Busfahrt zu medizinisch erforderlichen Behandlungen zugemutet
werde konnte, wurden schon einige Male abgelehnt. Nicht, weil
sie unbegründet gewesen wären, sondern weil vorhergehende
Konflikte mit dem Unterkunftgeber als gefährliche Drohung
gewertet wurden. Die Nichtverlegung als Sanktion hat in diesen
Fällen freilich lebensbedrohliche Konsequenzen.
Problematisch ist das Fehlen von medizinisch betreuten Einrichtungen.
Im Herbst kam es in Österreich zum vermutlich vermeidbaren
Todesfall eines über 60-jährigen anerkannten Flüchtlings,
der als Sozialhilfebezieher untergebracht in einer eigenen Wohneinheit
eines Flüchtlingswohnheims eigentlich als gut versorgt
angesehen werden musste. Allerdings war er Dialysepatient und
musste regelmäßig in das nächste Krankenhaus.
Auch das wurde organisiert. Doch offenbar waren Komplikationen
aufgetreten und es gelang dem Betroffenen nicht, Hilfe zu holen.
Ein Wohnungsnachbar fand nach einigen Tagen tot in der Wohnung
auf. Dieser Fall zeigt die Risiken älterer allein stehender
Flüchtlinge, die sich nicht in der Landessprache verständigen
können, keine privaten Kontakte haben und zudem oft ohne
Telefon leben. Sie bräuchten, was es nicht gibt: gute Wohnqualität
UND medizinische Betreuung, möglichst in ihrer Muttersprache.
Geriatrische Versorgung.
Eine EU-weite Erhebung der asylkoordination Österreich
ergab, dass in keinem der 14 untersuchten Länder die Möglichkeit
besteht, dass pflegebedürftige AsylwerberInnen in die regulären
Senioren- und Pflegeheime aufgenommen werden. Damit verbleiben
Pflegebedürftige - medizinisch riskant - in Flüchtlingsheimen,
in denen gerade einmal ein Kasten mit Notfallmedikamenten zur
Verfügung steht. Spezialeinrichtungen abseits der regulären
Einrichtungen sind selten, wurden punktuell jedoch bereits organisiert:
In Österreich existierte während des Bosnienkrieges
in der Steiermark eine eigens eingerichtete Pflegestation mit
22 Betten im Rahmen eines Flüchtlingsheims.
Etwas besser sieht es für anerkannte Flüchtlinge aus.
In Großbritannien unterhalten mehrere Exilgruppen sogar
eigene Altersheime von und für ihre ethnische Gruppe. Ein
Beispiel: Ein lettisches Altersheim beherbergt in einer Pflege-
und einer Wohneinheit insgesamt 27 BewohnerInnen. Einige leben
seit 30 Jahren dort, es ist für sie ihr Zuhause geworden.
Regelmäßig gibt es Konzerte lettischer Musikgruppen,
Ausflüge etc. Was das Besondere an diesen Heimen ist? "Es
ist nicht so sehr die gemeinsame Sprache - alle BewohnerInnen
sprechen fließend Englisch. Es ist eher, dass die Leute
während des Krieges ähnliche traumatische Erfahrungen
gemacht haben. Es ist eine über das Sprachliche hinausgehende
Art, einander zu verstehen", so der Direktor des Hauses.
In Österreich existiert Vergleichbares nur innerhalb der
jüdischen Gemeinde, die ein Altersheim für betagte
Jüdinnen und Juden in Wien betreibt. Interkulturelle Pflege
ist vergleichsweise noch wenig Thema. In Deutschland existiert
bereits eine von den größten Wohlfahrtsverbänden
getragene Charta zur interkulturellen Pflege und eine rege Diskussion
über Möglichkeiten, SeniorInnen anderer Herkunftsländer
entgegenzukommen: sprachlich, in religiöser und traditioneller
Hinsicht, in der Verpflegung wie im Respekt vor Schamgrenzen
und Tabus.
Und die rechtlichen Voraussetzungen? Auch nicht ganz einfach,
da auch für Flüchtlinge die üblichen Richtlinien
gelten. Diese sind für sie aber ungleich schwerer zu erfüllen,
da die Möglichkeit eines Heim-Wohnplatzes wesentlich an
den Bezug von Pflegegeld gebunden ist, welches wiederum an den
Pensionsbezug gekoppelt ist. Um einen Pensionsanspruch zu erwerben,
empfiehlt sich jedoch die Flucht bereits in jungen Jahren …
Auswege bieten nur Landespflegegeld und Sozialhilfe.
Familiäre Rolle und Integration.
Ältere Flüchtlinge kommen selten alleine, meist im
Familienverband. Für das Familiengefüge stellen Exilsituationen
eine Belastung mit unvorhersehbarer Dynamik dar. Häufige
Konstellation: Kinder übernehmen die Rolle als Dolmetscher
und Brückenpfeiler in die neue Kultur. Frauen finden früher
oder besser bezahlte Arbeit als ihre Männer. Und die Älteren
verlieren ihren Status als die Weisen der Familie. Kommt eine
Familie von zwei oder drei Generationen im Exilland an, werden
die Rollen oft neu verteilt. Die ältere Generation hat
dabei die schlechtesten Karten im Poker um die Position derjenigen,
die den Kontakt zur Außenwelt, mit ihrer unbekannten Sprache
und Kultur, aufnehmen. Dadurch kann starke Abhängigkeit
von den jüngeren Mitgliedern der Familie entstehen, die
ohnehin genug mit eigenen Problemen zu kämpfen haben. Als
"Verschwinden hinter der Familie" wird diese Tatsache
beschrieben, die auch BeraterInnen in Österreich beobachten:
"Wir hatten schon einige Familien, bei denen die Großmütter
mit waren", erzählt eine, "aber ehrlich gesagt,
ich kann mich an diese Frauen nicht erinnern, denn sie kamen
nie persönlich. Meistens kamen die Familienmitglieder,
die halt schon am besten Deutsch konnten". Integration
in die Familie ist somit ein erstes Ziel, noch vor der Integration
in die neue Umgebung.
Dass diese Abhängigkeit zu Aggressionen und Konflikten
führt, verwundert nicht. Dass daraus in Einzelfällen
aber sogar Misshandlungen älterer Familienangehöriger
entstehen, sollte alarmieren.
In den USA wird die Aufwertung und Rollenstabilisierung älterer
Flüchtlinge in ihren Familien durch spezielle Programme
gefördert. So werden Englischkurse speziell für Ältere
abgehalten. Sinnvoll angesichts der mit dem Alter steigenden
Drop out-Quote und der Barriere, sich überhaupt mit 15
jüngeren und schnelleren KollegInnen auf die Schulbank
zu begeben. Ein weiteres Beispiel sind Kurse in Kinderbetreuung
und Kinderkrankenpflege für Ältere. Die Idee dahinter
ist, die ältere Generation in einer familiären Rolle,
die sie im Exil häufig einnehmen, zu stärken und gleichzeitig
ihre sozialen Kontakte über die Familie hinaus zu erweitern.
Trotz der beschriebenen möglichen Isolationsdynamik: Die
positiven Aspekte, die Familie um sich zu haben, überwiegen
bei weitem. In einer Befragung älterer Flüchtlinge,
ob sie, sofern die politische Situation es erlaubt, zurückgehen
würden, orientierten sich die meisten an ihrer Familie.
"Ich bleibe, wo meine Kinder und Enkel sind" - so
lassen sich die Antworten zusammenfassen.
Zurück zur Existenzsicherung.
Was hat das alles aber nun mit existenziellen Problemen zu tun?
Warum überhaupt die spezifischen Probleme einer so verschwindend
kleinen Gruppe bejammern, wenn ältere AsylwerberInnen doch
ohnehin fast alle in die staatliche Betreuung aufgenommen werden?
Wenn sie als anerkannte Flüchtlinge doch immerhin - wenn
sie nach einem Leben voller Arbeit schon keine Chance auf eine
Pension haben - die Sicherheit der Sozialhilfe haben? Das sind
Fragen, die sich uns bei der Beschäftigung mit einer speziellen
Gruppe von Flüchtlingen angesichts der Probleme der großen
Masse tatsächlich aufdrängen. Die Gegenfrage lautet
aber, ob es denn unerhörter Luxus wäre, mehr als Überleben
zu fordern. Und ob das Schlagwort vom "Altern in Würde"
nur für österreichische SeniorInnen gilt. Vielleicht
- denn als SeniorInnen (nein, laut Gesetzestext: Senioren) gelten
alle, die eine Pension beziehen oder ein bestimmtes Alter erreicht
haben - 55 Jahre bei Frauen, 60 Jahre bei Männern -, aber
nur, wenn sie "Personen österreichischer Staatsangehörigkeit
oder der Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaates des
Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum mit
Wohnsitz in Österreich" sind. So führt das Bundesseniorengesetz
in §2 aus. Übrigens: Zahlreiche Paragraphen dieses
Bundesgesetzes wurden im Jahr 2000 geändert. Der §2
nicht.
Marion Kremla, asylkoordination Österreich
Langfassung eines Artikels aus der Volksstimme 14/
3.April 2003.
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