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"Krankes System" [Marion Kremla, März 2003]
"Prost, alles Gute - und Gesundheit, das ist das Wichtigste." Mehrheitsfähige Geburtstagswünsche, oft gehört. Gesundheit ist ein wertvolles Gut. Wie ist das in Österreich für Flüchtlinge?
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Eine Lücke im Wohlfahrtsstaat. Gesundheit ist nicht nur eine Frage der Selbstverantwortung und des Lebensstils, wie sie oft gehandelt wird (Stichworte: cholesterinarme Ernährung, regelmäßiger Ausgleichssport etc.). Gesundheit ist auch eine Frage der Leistungsansprüche und somit teilbar. Im Falle der AsylwerberInnen verläuft die Grenze, die Krankenversicherte von Unversicherten trennt, entlang der Kriterien für die als "Bundesbetreuung" bekannte staatliche Grundversorgung. Diese wird nach Richtlinien vergeben, die zwei Drittel der AsylwerberInnen nicht erfüllen. Dadurch entsteht die prekäre, in der Europäischen Union einzigartige Situation, dass Menschen mit legalem Aufenthalt keinerlei Anspruch auf medizinische Leistungen haben. Dies betrifft jährlich rund 20.000 Menschen und hat in unzähligen Fällen zu einer Verschlechterung bestehender und unzureichender Behandlung von neu auftretender Krankheiten und letztlich zu vermeidbaren Todesfällen geführt.

Die wichtigsten Kriterien für eine Aufnahme in die Bundesbetreuung sind der Nachweis bestimmter Herkunftsländer, wobei im Grunde nur AsylwerberInnen aus Afghanistan und aus dem Irak ohne Einschränkungen während des gesamten Verfahrens in Bundesbetreuung aufgenommen werden.

Was ist aber, wenn jetzt jemand aus dem sozusagen "falschen" Land kommt, sagen wir aus Georgien, und schwer krank ist. Dann ist die besondere Hilfsbedürftigkeit zu prüfen. Denn auch wenn ein so genannter absoluter Ausschlussgrund besteht - für Georgien ist dies z. B ab dem ersten negativen Bescheid der Fall - kann jemand in die Bundesbetreuung aufgenommen werden, wenn er oder sie "aufgrund ihres körperlichen Zustandes besonders hilfsbedürftig ist" (Richtlinie für die Aufnahme in die Bundesbetreuung, Stand 1.10.2002).

Genaue Definitionen dazu sind nicht angegeben. Außer bezüglich Schwangerschaft: Besondere Hilfsbedürftigkeit wird Frauen im Mutterschutz - und nur in dieser Zeit, also zwei Monate vor und nach der Geburt - zugestanden: in dieser Zeit können sie in die Bundesbetreuung aufgenommen werden, auch wenn die anderen Kriterien nicht zutreffen. Im Umkehrschluss heißt dies leider, dass Obdachlosigkeit und fehlende Krankenversicherung sowohl einer bereits Hochschwangeren wie einer Mutter mit einem Säugling durchaus zumutbar sind.

Beratungsalltag. Was tun Flüchtlingshilfsorganisationen in dieser Situation? Der Ausweg liegt in der Kooperation mit ÄrztInnen, die bereit sind, kostenlos zu behandeln. ZahnärztInnen, die für eine Behandlung keinen Krankenschein verlangen. Krankenhäuser, wie das der Barmherzigen Brüder, die Operationen und Geburten auch für Unversicherte durchführen. Fast jede Hilfsorganisation verfügt über eine Liste solcher ÄrztInnen, zum Glück gibt es viele, die dazu bereit sind, sodass nicht zu viele Unversicherte auf eine/n dieser Freiwilligen kommen. Zum Dolmetschen gehen meistens FreundInnen oder Angehörige mit - heikel bei gynäkologischen Behandlungen, doch selbst in Wien gibt es kaum ÄrztInnen, die die relevanten Sprachen sprechen und noch dazu kostenlos behandeln würden.

Positiv ist auch das Medikamentendepot des Roten Kreuzes, das Flüchtlingshilfsorganisationen bei Nachweis eines Rezepts immer wieder mit Medikamenten für unversicherte, chronisch kranke Flüchtlinge versorgt.

In Berlin entstand aus einer ähnlichen Situation loser Netzwerke zwischen ÄrztInnen und NGOs das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe. Zwar ist in Deutschland für aufenthaltsberechtigte AsylwerberInnen, anders als in Österreich, der Zugang zur medizinischen Versorgung selbstverständlich, doch unversicherte Flüchtlinge, die weder Asyl bekommen haben, noch in ihre Heimat zurückkehren können, gibt es viele. Für sie vermittelt das Büro qualifizierte medizinische und zahnmedizinische Behandlung.

The lucky few. Etwa ein Drittel aller AsylwerberInnen werden zumindest für einen Teil ihrer Verfahrensdauer im Rahmen der Bundesbetreuung versorgt. Bezüglich der medizinischen Versorgung bedeutet dies eine Krankenversicherung im normalen Umfang. Problematisch bleiben Extraleistungen, die von der Kasse nicht gedeckt sind. Für eine Zahnspange oder Physiotherapie muss die Kostenübernahme beim Innenministerium beantragt werden, in diesen Fällen wird Gesundheitsversorgung wiederum zur Verhandlungssache.

Wo es leider auch im Fall von Bundesbetreuung und damit aufrechter Krankenversicherung hakt, sind chronische und behandlungsintensive Krankheiten sowie psychotherapeutische Behandlungen. BetreuerInnen berichten von unlösbaren Problemen, dringend notwendige psychotherapeutische Behandlungen mit entsprechenden DolmetscherInnen zu organisieren. Zur Zeit besteht insbesondere Bedarf nach psychotherapeutischen Angeboten für schwerst traumatisierte TschetschenInnen, für Erwachsene ebenso wie für Jugendliche und Kinder, denen ein Leben ohne Krieg nicht mehr bekannt ist. Entsprechende DolmetscherInnen sind nur bei den völlig überlaufenen Einrichtungen, die sich auf die Therapie von Folterüberlebenden spezialisiert haben, verfügbar. Bezüglich der Bezahlung gilt hier: für Versicherte, d. h. Bundesbetreute übernimmt die Krankenkasse den für Psychotherapien üblichen Satz, für Unversicherte muss das Honorar für TherapeutInnen und DolmetscherInnen gänzlich aus Förderungen und Spenden abgedeckt werden.

Im Wald und auf der Heide. Ein weiteres gesundheitlich relevantes Problem ist die große Entfernung der ländlichen Quartiere zur nächsten ärztlichen Behandlungsmöglichkeit. Für chronisch Kranke, Schwangere und gebrechliche Menschen ist eine solche Unterbringung natürlich völlig ungeeignet, ein Antrag auf Verlegung jedoch nicht immer erfolgreich. Ärztliche Atteste, mit denen die Risiken einer Verlegung, z. B. mangels ärztlicher Betreuungsmöglichkeiten oder weil eine weitere Veränderung den Zustand psychisch labiler Personen weiter verschlechtern könnte, können helfen. Doch oft fehlt den BetreuerInnen angesichts kürzester Vorankündigung - vielfach innerhalb von 24 Stunden - die Zeit, solche Belege zu organisieren.

Ein anderes Kapitel sind die gesundheitsfördernden Eigenschaften der jeweiligen Quartiere. Ein großer Teil der Einrichtungen der Bundesbetreuung befindet sich in abgelegenen ländlichen Gegenden. Meist handelt es sich dabei um ehemalige Pensionen, die mangels TouristInnen nur mehr durch die vom Innenministerium gezahlten Taggelder erhalten werden. Dabei muss klargestellt werden, dass keine/r dieser PensionswirtInnen irgendeine Art von Schulung durchlaufen hat oder sich eines Auswahlverfahrens unterziehen hätte müssen. Auch bekommen die Wirte und Wirtinnen keine Unterstützung durch BetreuerInnen oder DolmetscherInnen vor Ort. Dies alles wird von NGOs durchgeführt, größtenteils ehrenamtlich. Verständlich, dass die BetreiberInnen dieser Pensionen, die von heute auf morgen zu Flüchtlingsherbergen mutieren müssen, unterschiedlich motiviert sind. Ob auf Ernährungsgewohnheiten der BewohnerInnen Rücksicht genommen wird oder ob stets Schweinefleisch am Tisch steht, ob Flüchtlinge zum Arzt gefahren werden oder nicht, der hygienische Standard - dies alles hängt vom guten Willen der BetreiberInnen ab. Die Verfügbarkeit einer Waschmaschine für die BewohnerInnen und nicht nur für die Tischwäsche der Pension, die scheinbare Bevorzugung einzelner Flüchtlinge, z. B. eine alte Tasche, die einem Schulkind zur Verfügung gestellt wird - all dies kann zu Konflikten führen. Konflikte aber können wiederum leicht zu Entlassungen, nicht nur aus der Pension, sondern aus der gesamten Bundesbetreuung führen. Dies ist bei "unzumutbarer Belastung für den Unterkunftgeber" möglich und wird auch angewandt.

Fazit. Eine dänische Sozialwissenschafterin recherchierte neulich auch bei uns über die Gesundheitsversorgung in verschiedenen EU Staaten. Das Telefongespräch war schwierig. Medical screening? Keines? Emergency care? Nur in besonders begründeten Fällen? Das Verständnisproblem war kein sprachliches. Das Problem war die Annahme der Gesprächspartnerin, dass der während des Asylverfahrens gewährte Schutz, wie nicht nur in Dänemark üblich, mehr als bloß den Schutz vor Abschiebung beinhaltet: so etwa eine Sicherung der Grundbedürfnisse wie Wohnen, Essen, medizinische Leistungen. Das Erstaunen dieser Gesprächpartnerin war erfrischend: es rückte Dinge zurecht, indem es als Selbstverständlichkeit sehen ließ, was uns als Gnadenakt zu sehen gelehrt wird. Die Kampagne Existenzsicherung für Flüchtlinge setzt sich dafür ein, dass derlei Selbstverständlichkeiten als Verantwortlichkeit eines der reichsten Staaten der Welt gesehen werden.




Marion Kremla, asylkoordination Österreich

Volksstimme 12/ 20.
März 2003.