Auf weltpolitische humanitäre Katastrophe reagieren
„Als Psychotherapeut*innen, die mit Flüchtlingen arbeiten, ist es unser Auftrag, unseren KlientInnen zu helfen, mit dem, was sich nicht ändern lässt, fertig zu werden. Bei unseren afghanischen KlientInnen stoßen wir hierbei seit dem Machtübernahme der Taliban zusätzlich an unsere Grenzen“, heißt es in einer Erklärung des Netzwerks für Interkulturelle Psychotherapie nach Extremtraumatisierung NIPE.
Seit Mitte August ist die Sorge um Familienangehörige in Afghanistan das dominierende Thema und die psychische Situation der Klient*innen bestürzend. „Sie erleben ein noch stärkeres Gefühl der Ohnmacht als damals, als sie selbst geflüchtet sind“ berichtet Kirsten Arbeiter, Psychotherapeutin beim Therapiezentrum Zebra in Graz. „Jede Stunde zeigen mir meine KlientInnen Fotos von den Zuständen in ihrem Heimatdorf und von misshandelten Familienangehörigen. Der Therapieraum ist für die KlientInnen die einzige Möglichkeit gehört zu werden, der einzige Ort, wo sie das Gefühl bekommen, jemand hat Mitgefühl mit ihrer Situation“.

Eindrückliche Fallbeispiele
Der Vater eines Klienten weigerte sich, für die Taliban als Automechaniker zu arbeiten und wurde auf offener Straße erschossen. Brüder unserer KlientInnen werden verschleppt. Schwestern und Mütter trauen sich nicht mehr auf die Straße, geschweige denn, dass sie ihre Ausbildung fortsetzen können. Eine Klientin konnte nicht verhindern, dass ihre Tochter zum Schutz der Familie einem Taliban versprochen wurde. Ein junger Klient verliert seit Sommer radikal an Gewicht, weil er nicht essen kann, wenn seine Familie hungert. Familien ohne Landbesitz, so wie seine, trifft die akute Nahrungsmittelkrise als erstes.
Es fällt den KlientInnen schwer, das Handy aus der Hand zu legen. Ständig kommen Nachrichten. Die Männer, die in Österreich Asyl bekommen haben, erzählen von ihren Frauen und Kindern, die eigentlich per Familienzusammenführung nachkommen könnten, jetzt aber weder Pässe noch andere notwendige Dokumente bekommen

Traumaarbeit erschwert
„Mit all diesen Klient*innen können wir derzeit nicht an den Traumata, die in der Vergangenheit liegen und sich nicht mehr ändern lassen, arbeiten“, erklärt NIPE-Koordination Marion Kremla.
„Leider werden wir Zeug*innen von vermeidbarer Qual, die unmittelbar jetzt stattfindet, nicht nur durch die Geschehnisse in Afghanistan, sondern auch durch die gleichgültige Reaktion hierzulande.“
Österreich habe 2015 durch die Aufnahme von Flüchtlingen gezeigt, so Kremla weiter, dass „wir in der Lage sind menschenrechtskonform auf weltpolitische humanitäre Katastrophen zu reagieren. Dies ist auch heute gefordert.“
Der NIPE-Forderungs-Katalog
  • Wir fordern, ein Aufnahmeprogramm für Afghan*innen mit Bezügen zu dem jeweiligen Land, in diesem Fall zu Österreich zu erstellen - so wie es in zahlreichen andere europäische Länder, so wie Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien, Großbritannien, aber auch in Kanada und in den USA Praxis ist.
  • Wir fordern dazu auf, die existierenden Regelungen für die Familienzusammenführung nach dem Niederlassungs –und Aufenthaltsgesetz (NAG) und nach dem Asylgesetz dahingehend zu ändern, dass aufgrund der Situation auf eine persönliche Vorsprache an der österreichischen Botschaft in Islamabad und Teheran verzichtet wird und der Antrag schriftlich gestellt werden kann.
  • Gleichermaßen rufen wir dazu auf, auf Nachweise für A1-Deutschzertifikate für nachkommende Familienangehörige nicht nur im Einzelfall, sondern aufgrund der faktischen Unmöglichkeit diese zu erlangen, generell zu verzichten. Gleiches gilt für weitere Dokumente, die derzeit nicht ausgestellt werden.
Die NIPE-Therapeut*innen sind überzeugt von der Wichtigkeit, den Menschen, die aus Afghanistan nach Österreich gekommen sind und hier leben, zu zeigen, dass ihre Sorge um ihre Familienangehörigen ernst genommen wird. Die Bereitschaft Österreichs, sich dafür einzusetzen, das Leben ihrer Geschwister, Eltern und Kinder zu retten, würde enormes Vertrauen in diese neue Heimat schaffen und damit eine grundlegende Voraussetzung für langfristige Integrationsbemühungen bilden.
Dazu brauche es den politischen Willen, gefährdete Afghan*nnen mit Österreichbezug in ein Aufnahmeprogramm aufzunehmen und durch Erleichterungen bei der Familienzusammenführung für ehestmögliche Sicherheit zu sorgen.
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WEBDESIGN Christof Schlegel / PROGRAMMIERUNG a+o / FOTOS Mafalda Rakoš