Und die Kinder schlafen auf der nackten Erde…
Lesbos, Moria, Kara Tepe – drei Ortsnamen, die seit Monaten als Synonym für die inhumane Behandlung geflüchteter Menschen auf europäischem Boden – auf dem Boden der EU – stehen. Wie soll man eine Situation beschreiben, die einem täglich aufs Neue fassungslos macht? An die man sich auch nach Monaten nicht gewöhnt? Nicht gewöhnen darf!
Von Helga Longin

 
Der Entschluss nach Lesbos zu fliegen war ziemlich spontan. Nach einigen Telefonaten sitzen Doro Blancke und ich am 15. September im Flugzeug nach Lesbos, um nach dem verheerenden Feuer am 9. September, das das Flüchtlingslager Moria komplett zerstört hat, vor Ort zu helfen. Wir gehen von einigen Tagen oder vielleicht zwei Wochen aus, die wir auf Lesbos bei der kleinen griechischen NGO Home for all helfend verbringen werden. Bis eben die griechischen Behörden und die EU wieder menschenwürdige Zustände hergestellt haben. Wie sehr wir uns doch täuschen.
Weit mehr als 10.000 Menschen verbringen die Wochen nach dem Feuer im Freien. Ganze Familien leben am Straßenrand, auf Parkplätzen, unter Bäumen. Einige wenige konnten ein paar Plastikplanen als „Dach über dem Kopf“ retten, die meisten haben nicht einmal das. Es ist heiß, es gibt kein Trinkwasser und kaum Essen, keine Toiletten, keine Waschmöglichkeiten.
Home for all, die NGO, die wir unterstützen dürfen, ist seit 2014, als die ersten Flüchtlinge auf Lesbos strandeten, aktiv (nähere Informationen auf www.homeforall.eu). Gemeinsam verteilen wir tausende Mahlzeiten täglich.
Von Hilfe durch griechische Behörden oder die EU ist in diesen ersten Tagen wenig zu sehen. Nicht, dass sich niemand für Moria interessieren würde – Dutzende Kamerateams, Reporter*innen, Politiker*innen aus aller Herren Länder, verschiedenste Hilfsorganisationen, Flüchtlingsexpert*innen tummeln sich im September auf den Straßen rund um Moria und in Mytileni. Das weltweite Interesse ist riesig. Innenminister Karl Nehammer bringt unter großem medialen Trommelwirbel österreichische Zelte als „Soforthilfe“ nach Athen. Dort werden sie eingelagert. Und die Menschen leben weiter auf der Straße.


Das Lager auf dem Schießplatz
Die Situation ändert sich täglich, manchmal stündlich. Mal heißt es, wir dürfen Mahlzeiten verteilen, dann wieder, das sei verboten.
Die griechische Regierung stampft in der Zwischenzeit gemeinsam mit dem Militär ein neues Lager aus dem Boden. Kara Tepe – ein ehemaliger Schießübungsplatz direkt am Wasser vor den Toren Mytilenis. Noch Tage später sieht man Soldaten mit Minensuchgeräten das Gelände nach Blindgängern absuchen. Spielende Kinder finden aber auch noch Monate danach immer wieder Munition auf dem Gelände des Lagers.
Unter den geflüchteten Menschen herrscht Skepsis, zum Teil große Angst. Man hört Kara Tepe soll ein „closed camp“ werden, das würde heißen: Es gibt rigorose Beschränkungen und niemand darf das Lager einfach so, zum Beispiel um spazieren zu gehen, verlassen. Um die Menschen zu „überzeugen“ ins neue Lager zu kommen, wird wieder einmal die Essens- und Wasserverteilung untersagt. Bei spätsommerlichen Temperaturen hält das kaum jemand länger als ein paar Stunden durch. Zumal ein Großteil der betroffenen Familien kleine Kinder hat. Die Menschen stehen stundenlang in der prallen Sonne vor den Lagertoren angestellt, um nach einem kurzen Coronacheck eingelassen zu werden. Spätabends dürfen wir dann an jene, die es an diesem Tag nicht ins Lager hineingeschafft haben und mit ihren paar Habseligkeiten entlang einer Hauptverkehrsstraße übernachten müssen, doch wieder etwas Essen und Wasser verteilen.
Kara Tepe, das sind rund 1.000 dicht gedrängte, dünne, wackelige Zelte auf nacktem steinigen Boden. Zwei Familien pro 9 m²-Zelt, alleinstehende Männer werden in mehreren Großzelten untergebracht. Jedes Zelt trägt eine händisch gemalte Nummer, an den Seiten kann man die Herkunft der Zelte erkennen. Deutsches Rotes Kreuz oder UNHCR sind am häufigsten vertreten. Die angeblich 400 festen österreichischen Zelte lagern derweil gut gesichert in Athen. Und die Kinder schlafen auf der nackten Erde.
Täglich erhalten die Menschen vom griechischen Militär zwei Mahlzeiten, ein karges Frühstück und eine Hauptmahlzeit. Dafür stehen sie zu Tausenden in zwei sogenannten „food lines“ an. Oft stundenlang. Selbst zu kochen ist im neuen Lager offiziell verboten. Jeder, aber auch wirklich jeder und jede erzählt uns, das Essen sei ungenießbar. Nicht einfach nur schlecht, sondern wirklich ungenießbar.


 Strategische Unmenschlichkeit
Anfang November, seit dem Feuer sind mehr als eineinhalb Monate vergangen, sind Doro und ich zu unserem zweiten Aufenthalt in Lesbos eingetroffen. Es hat sich nichts zum Besseren geändert, das wissen wir. Es gibt nach wie vor keine Duschen, nur Mobilklos, keinen festen Boden für die Zelte. Keine Schulen für die Kinder.
Durch das neue Lager zu fahren, macht uns dennoch immer wieder fassungslos und entsetzt. Wir befinden uns nicht in der „Dritten Welt“, wir sind mitten in Europa, in einem EU-Land. Hier hungern Menschen, Tausende Kinder haben weder Schuhe noch Socken, Neugeborene liegen in alten Decken auf dem Boden. In den Nächten ist es bitterkalt und es geht ein eisiger Wind. Im Lager ist es finster, da es kaum irgendwo Strom gibt. Frauen und Kinder haben Angst, in der Finsternis zu den wenigen vorhandenen Toiletten zu gehen.
Wir verteilen mit Home for All und einer Gruppe Helfer*innen aus dem Lager tausende Mahlzeiten für besonders vulnerable Personen, stellen Kleiderpakete zusammen, kaufen Socken und Schuhe für die Kinder. Und wir wissen: Alles was wir tun, wird zu wenig sein, nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber die Menschen in Österreich sind – wieder einmal – großartig. Sie unterstützen uns mit Spenden und so sind es doch viele kleine Tropfen, die zustande kommen. Aber es ist eine riesige Schande Europas, dass wir es überhaupt tun müssen. Ein paar tausend Menschen mit vernünftigen Unterkünften, genießbaren Mahlzeiten, warmer Kleidung, Waschmöglichkeiten zu versorgen, kann doch kein Problem für Europa sein. Was schafft die EU, wofür steht sie, wenn sie nicht einmal das schafft?
Die Menschen, die gezwungen sind in Kara Tepe unter diesen Bedingungen zu überleben, sind unglaublich stark. Fast alle sind höflich, immer freundlich und verständnisvoll, wenn wir etwas nicht haben oder nicht geschafft haben es zu besorgen. Ich schäme mich unendlich, wenn wir gerade mal ein paar billige Blöcke und Bleistifte verteilen können und die Kinder uns dafür dankbar umarmen.
Von Dezember bis Februar regnet es auf Lesbos häufig, heftige Gewitterstürme sind keine Seltenheit. Nach meiner Rückkehr nach Österreich vor Weihnachten schicken mir Menschen aus dem Lager Videos, die zeigen, wie Eltern mit Konservendosen versuchen, Wasser aus den überfluteten Zelten zu schöpfen, während daneben kleine Kinder im nassen Dreck schlafen.
Die griechische Regierung verschärft ihre Gangart, Videos und Fotos aus dem Lager werden strikt verboten. Um die „Privatsphäre“ der Menschen zu schützen, so die offizielle Begründung. Als ob es in den Zelten von Kara Tepe, in denen mehrere Familien auf engstem Raum überleben müssen, so etwas wie Privatsphäre gäbe.
Von den 400 österreichischen Zelten wurden inzwischen angeblich 25 im Corona-Quarantänebereich des Lagers aufgestellt. Für den Rest ist es jetzt vermutlich zu spät, da feste Zelte wohl auch einen festen Untergrund brauchen. Die werden wohl den Winter in einem trockenen Lagerhaus verbringen.
Am 21. Dezember vermeldet das Österreichische Rote Kreuz, dass es jetzt endlich Duschen gibt. Sogenannte „Bucket Showers“ – das heißt, Menschen bekommen einen Kübel mit warmem Wasser in die Hand gedrückt, mit dem sie sich in einem der wenigen Duschcontainer alle paar Tage waschen können. Das ist der Fortschritt, der dank der offiziellen internationalen „Hilfe vor Ort“ in dreieinhalb Monaten erreicht wurde.
 
Persönliche Conclusio
Es ist mir persönlich inzwischen völlig egal, wer die Schuld an den unerträglichen Zuständen in Kara Tepe trägt. Hat man Griechenland zu lange mit allen Problemen allein gelassen? Hat die EU einfach weggesehen, wenn es um die Verwendung der Milliarden an Unterstützungsgeldern ging? Wie unfähig oder wie unwillig müssen Behörden sein, die mehr als drei Monate brauchen, um ein paar läppische Duschcontainer aufzustellen? Egal, wer irgendwann einmal als „Schuldige*r“ ausgemacht wird, solche Elendslager DARF es auf europäischem Boden einfach nicht geben. Es ist auch völlig unerheblich, wie viele Menschen in Kara Tepe tatsächlich Anspruch auf Asyl haben. Europa wird vermutlich nicht für alle die erhoffte bessere Zukunft bringen. Aber das ist in einem fairen, rechtsstaatlichen Verfahren zu klären. Und darauf hat jeder und jede Einzelne ein verbrieftes Recht in Europa. Menschen in menschenunwürdigen Lagern dahinvegetieren zu lassen, widerspricht allen Grundsätzen und Regeln, auf die wir in der EU – zu Recht – so stolz sind. Dass sich die österreichische Bundesregierung trotz immer lauter werdender Forderungen nach wie vor stur und hartherzig weigert, auch nur einige wenige Menschen aus Kara Tepe aufzunehmen, tut weh. Dass sie sich aber nicht einmal für eine tatsächliche strukturelle Verbesserung lautstark innerhalb der EU einsetzt, ist eine noch größere Schande. Offenbar nimmt man als österreichische Regierung Grausamkeiten zur Abschreckung von Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, billigend in Kauf. Und das ist ein Skandal, den wir alle gemeinsam einfach nicht mehr tolerieren sollten. Nicht tolerieren dürfen.
Und bis sich unsere Regierungen wieder auf den europäischen Wert der Humanität besonnen haben, müssen wir als Zivilgesellschaft einfach weitermachen. Aufzeigen, was in der Behandlung geflüchteter Menschen falsch läuft und weiterhelfen, wo Hilfe notwendig ist. Es geht um die Menschenwürde. Und zwar um unsere!
 
 
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