Afghanistan-Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs mit weitreichenden Folgen
„Anstatt höchstgerichtliche Entscheidungen zu ignorieren, wären das BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) und das BVwG (Bundesverwaltungsgericht) gut beraten, sämtliche Afghanistan-Fälle rasch zu bearbeiten und jedenfalls temporären Schutz zu gewähren“, fordert asylkoordination Sprecher Lukas Gahleitner-Gerz anlässlich einer jüngst ergangenen Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs.
 
Die Höchstgerichte sind in Asylverfahren oft die letzte Hoffnung für Geflüchtete, wenn sowohl das BFA als auch das Bundesverwaltungsgericht keine Verfolgung oder Gefährdung im Herkunftsland anerkennen, die zu einem Schutzstatus in Österreich führen müsste.
In einem Anfang Jänner ergangenen Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs hatte der von Rechtsanwältin Jana Messerschmidt vertretene afghanische Staatbürger mit seiner Beschwerde gegen ein Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) Erfolg – seiner Beschwerde wurde stattgegeben.
Das höchstgerichtliche Erkenntnis sollte weitreichende Folgen für die Asylverfahren von afghanischen Schutzsuchenden haben.
 
Grundlegende Menschenrechte verletzt
In der Regel geht es bei höchstgerichtlichen Aufhebungen von Asyl-Erkenntnissen um Mängel oder Willkür im konkreten Verfahren – eine allgemeine Schlussfolgerung für Asylwerber aus demselben Herkunftsland ergibt sich daraus meist nicht.  
Anders im konkreten Fall: In der  jüngst ergangenen Entscheidung kommt der Verfassungsgerichtshof (VfGH)  wie auch schon in einer Entscheidung im September 2021 zum Schluss, dass eine Abschiebung nach Afghanistan gegen Artikel 2 (Recht auf Leben) und 3 (Folterverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen würde. Das BVwG hatte zuvor die Beschwerde gegen die negative Entscheidung des BFA noch abgelehnt, die Rückkehrentscheidung bestätigt und eine Abschiebung nach Afghanistan für zulässig erklärt hatte. Der VfGH hat diese Entscheidung nun aufgehoben, weil der Afghane in seinem „verfassungsgesetzlich gewährleistete[n] Recht auf Leben sowie darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden[ist].“ (E 4227/2021-9. 16. Dez. 2021)
Aus der Begründung der Entscheidung  ergibt sich, dass dieselbe Gefahr für sämtliche afghanische Asylwerber im Falle einer Abschiebung gegeben wäre: Aus der aktuellen Berichtslage ergibt sich eine „extreme Volatilität (Unbeständigkeit hl) der Sicherheitslage in Afghanistan“ und eine mehr als angespannten Versorgungslage, die dazu führe, dass „fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung auf humanitäre Hilfeleistungen angewiesen sei“. 
 
Lage in Afghanistan wieder beruhigt
Wie kann es sein, dass nach der Machtübernahme der radikal-islamistischen Taliban, die die westlichen Alliierten mit allen Mitteln zu verhindern versuchten, österreichische Beamt*innen, österreichische Richer*innen die Verantwortung davor übernehmen, dass Menschen diesen religiösen Fanatiker ausgeliefert werden?
Die Begründung, die Richter Michael Etlinger in seinem Erkenntnis anführt, kann wohl nur als vollkommen lebensfremd und offenkundig ideologisch motiviert bezeichnet werden:
„Im Gegensatz zur Lage vor der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, wo die Taliban selbst jahrelang die politische Lage, insbesondere durch Selbstmordanschläge, zu destabilisieren versuchten, scheinen die Taliban – als Regierungsverantwortliche – nunmehr bemüht, entschlossen gegen den IS vorzugehen.“
Etlinger spricht auch davon, dass sich die Lage in Afghanistan „wieder zu beruhigen scheint“ und trotz einer Verschlechterung der allgemeinen Versorgungslage die Taliban schon aufgrund pragmatischer Erwägungen auf gefestigte Versorgungsstrukturen aufbauen würden. Daher seien Länderberichte, die die Versorgungslage vor der Machtübernahme der Taliban schilderten, nach wie vor aktuell.
Dass sich Richter Michael Etlinger zu einer solchen Entscheidung hinreißen lässt, dürfte auch damit zusammenhängen, dass Österreich noch Anfang August 2021 gemeinsam mit Deutschland eine Abschiebung nach Afghanistan durchführen wollte. Diese Abschiebung wurde in letzter Minute u.a. aufgrund einer von der Wiener NGO Deserteurs- und Flüchtlingsberatung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erwirkten einstweiligen Verfügung (interim measure) gestoppt. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Taliban auf dem Vormarsch, nach dem Abzug der NATO-Truppen wurde die Hauptstadt Kabul dann schon Mitte August von den Taliban eingenommen.
Noch am 13.08.21 wurde die tatsächliche Sicherheitslage vom damaligen Innenminister Nehammer total verkannt. Er verkündete, dass er an Abschiebungen nach Afghanistan festhalte. Dies, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon Herat von den Taliban eingenommen worden war und am nächsten Tag (14.08.21) die Einnahme Mazar-e-Sharif folgte.
 
Höchstgerichtsentscheidung ignoriert
Ein besonderes Ärgernis stellt die Tatsache dar, dass sich Richter Etlinger so wie die seinem Beispiel folgende Richterin Schneider bei ihren Entscheidungen über ein älteres Verfassungsgerichtshoferkenntnis hinwegsetzten. Schon am 30. September hatte es eine ähnliche Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs gegeben: Schon damals wurde eine negative Entscheidung des BVwG aufgehoben und dezidiert gesagt, dass spätestens ab 20.7.2021 die Lage in Afghanistan so gefährlich war, dass jedenfalls von einer realen Gefahr einer Art 3 EMRK-Verletzung (Gefahr der Verletzung des Folterverbots) bei rechtskrätig negativen Entscheidungen auszugehen sei. (E 3445/2021-8. 30 Sept. 2021)
 
Aufgrund der sehr eindeutigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes von Ende September, basierend auf den aktuellen Länderinfos, liegt es auf der Hand, dass die beiden Instanzen des Asylverfahrens (BFA und BVwG) aufgrund der volatilen Sicherheitslage sehr rasch sehr viele zumindest temporäre Schutztitel (subsidiärer Schutz) erteilen hätten können bzw. müssen. Das wäre auch verfahrensökonomisch sinnvoll, weil es dadurch möglich wäre, Altfälle abzubauen und keinen neuen Rückstau entstehen zu lassen. Zudem würde es die Integration beschleunigen, weil diese Personen ab Abschluss des Verfahrens auch Zugang zum Arbeitsmarkt hätten. Es wäre für die Behörde bzw. das Gericht auch möglich, in einem bzw. zwei Jahren zu überprüfen ob die Voraussetzungen (volatile Sicherheitslage in Afghanistan) noch vorliegen – bei Nichtvorliegen könnte auch ein Aberkennungserfahren geführt werden. Win-win, möchte man meinen.
 
Verlorene Lebenszeit
Im Jahr 2021 wurden vom Bundesverwaltungsgericht sehr viele Afghanistan-Verfahren bereits abgearbeitet. Nur einige wenige Richter*innen wie Etlinger widersetzten sich ohne nachvollziehbare Begründung den klaren Vorgaben. Das nunmehrige Verfassungsgerichtshofserkenntnis zeigt aber hier schon seine Wirkung: Die soweit ersichtlich letzte vollinhaltlich negative Entscheidung von Richter Etlinger stammt von Mitte Dezember, im Jänner hat auch er in Afghanistan-Fällen nun Schutz gewährt.
 
Doch das ist nicht genug: Vor allem in der ersten Instanz ist zu beobachten, dass viele Fälle – vor allem auch Folgeanträge – nicht nur nicht systematisch abgearbeitet, sondern sogar liegen gelassen werden.
 
Diese Arbeitsverweigerung des BFA ist nicht hinnehmbar: Das BFA verfügt über einen unverhältnismäßig hohen Personalstand, die Erledigungsquoten sind sehr gering. Das Innenministerium betreibt – wieder einmal - Problembewirtschaftung. Es beklagt eine hohe Anzahl an Verfahren und verweigert gleichzeitig die notwendigen Maßnahmen, um einen Verfahrensrückstau zu vermeiden.
Leidtragende sind die schutzsuchenden Menschen, deren Verfahren in die Länge gezogen werden und die wertvolle Lebenszeit mit sinnlosem Warten auf den Verfahrensausgang verschwenden müssen.
Spätestens jetzt, da der Verfassungsgerichtshof zum wiederholten Mal klar ausgesprochen hat, dass sämtliche zur Verfügung stehende Länderinformationen klar darlegen, dass eine Rückführung nach Afghanistan dem in Österreich im Verfassungsrang stehenden Folterverbot widersprechen würde, eine Abschiebung nach Afghanistan also nicht möglich ist, müssen die anhängigen Asylverfahren afghanischer Schutzsuchender wesentlich beschleunigt werden.
 
 
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