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Braucht die Genfer Flüchtlingskonvention eine Frischzellenkur? [Melita H. Sunjic, UNHCR, 2001]
In den letzten Jahren ist der Schutz der Flüchtlinge immer mehr in den Hintergrund getreten gegenüber dem Schutz vor Flüchtlingen. Das Vokabular der internationalen Asyldebatte nähert sich immer mehr jenem der Schädlingsbekämpfung an. Von "Abwehr" ist die Rede, von "Abschreckung" und von "Plage" - als handelte es sich um lästige Tauben und nicht um schutzbedürftige Menschen. Folgerichtig knabbern viele Politiker und Beamte an der Genfer Flüchtlingskonvention - ausgerechnet im fünfzigsten Jahr ihres Bestehens. Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat will nun das Heft des Handelns in die Hand nehmen und lädt zu "Globalen Konsultationen" über zeitgemäßen Flüchtlingsschutz ein.
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Mitte Mai veröffentlichte das renommierte Internationale Institut für strategische Studien in London (IISS) einen Bericht zur Weltsicherheitslage. Demnach sind die beiden größten Bedrohungen für die Menschheit erstens die fortschreitende Erderwärmung und zweitens der "endlose Strom" von Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen.
Sollten die Konservativen die nächsten Unterhauswahlen in Großbritannien gewinnen, weiß die "Innenministerin" des Schattenkabinetts, Ann Widdecomb, schon genau, was in der Flüchtlingspolitik zu tun ist: "Schon in der ersten Woche und im ersten Monat werden wir die richtigen Signale in die Welt hinaussenden: Wir sind kein leichtes Ziel mehr." Alte Kasernen sollen in geschlossene Auffanglager für Asylwerber umgebaut werden.
Labour geht das Thema etwas eleganter an. Premierminister Tony Blair schreibt jüngst in einem Gastkommentar in der angesehenen Londoner Times "Asyl ist ein schwieriges und komplexes Problem. Daher sollten sich alle betroffenen Staaten und NGOs zusammensetzen und überlegen, wie man das System am besten modernisieren kann, um den veränderten Herausforderungen des neuen Jahrhunderts gewachsen zu sein."
Was hinter dieser harmlos verklausulierten Formulierung steckt, ist ein in Frage Stellen der Genfer Flüchtlingskonvention. Großbritannien, das neuerdings zu den Hauptaufnahmestaaten für Asylwerber in Europa gehört, führt diese Debatte an. Doch über die Gültigkeit der GFK wird in fast allen Industrieländern diskutiert.
Die Genfer Flüchtlingskonvention, einst ein Meilenstein in der Entwicklung des humanitären Völkerrechts, ist heute vielen Staaten lästig geworden. Denn sie ist ein starkes Schutzinstrument. Vor 1951 entschieden Aufnahmestaaten nach eigenen Interessen: wirtschaftliche und demografische Überlegungen, die politischen Reaktionen des Fluchtlandes, die Qualifikationen des Flüchtlings gaben den Ausschlag für die Asylgewährung. Die GFK hingegen kennt nur ein einziges Entscheidungskriterium: die individuelle Schutzbedürftigkeit des Asylsuchenden. Auf wen die Flüchtlingsdefinition zutrifft, der hat Anspruch auf internationalen Schutz. Basta. Die Regelung ist einfach, klar und am Opfer der Verfolgung orientiert. Das macht sie bei Staatsmännern so unbeliebt
Die Genfer Flüchtlingskonvention musste im letzten Jahrzehnt mehreren, immer schärfer werdenden "Angriffswellen" standhalten:
· der allzu wörtlichen Interpretation des Buchstaben, die gegen den Geist des Dokuments verstieß;
· der Uminterpretation des Texts, wobei Teile hinein- bzw. herausinterpretiert wurden, die gar nicht so drinnen stehen;
· der Verdrängung durch andere Rechtsinstrumente
· und neuerdings dem Bestreben, die GFK umzuschreiben

Allzu wörtliche Interpretation der GFK
Es ist eine Binsenweisheit, dass eine seriöse Interpretation von Rechtstexten nicht nur deren Buchstaben sondern auch deren Geist verpflichtet sein muss. Die Verfasser der Genfer Flüchtlingskonvention hatten im Sinne, jenen Menschen internationalen Schutz zu gewähren, die diesen in ihren eigenen Staaten nicht erhielten. Denn jede Person hat ohne Diskriminierung Anspruch auf alle fundamentalen Rechte und Freiheiten. So ist es auch in der Präambel der Konvention festgehalten worden. Was die Verfasser selbstverständlich nicht voraussehen konnten, sind neue politische Gegebenheiten und neu entstandene Verfolgungsmuster.
So ist beispielsweise die geschlechtsspezifische Verfolgung in der Genfer Konvention nicht dezidiert erwähnt. Ob diese Form der Verfolgungshandlungen noch nicht vorhanden war, oder damals das Unrechtsbewusstsein gegenüber frauenspezifischen Unterdrückungsmaßnahmen noch nicht entwickelt war, tut nichts zur Sache. Nach heutigem Rechtsverständnis werden bestimmte, nur gegen ein Geschlecht gerichtete Formen der Unterdrückung und Gewalt meist nicht mehr als traditions- und kulturbedingte Bräuche gesehen, sondern als Verfolgungshandlungen. Geschlechtsspezifische Verfolgung von vornherein nicht als asylbegründend anzusehen, verstößt daher gegen den Geist der GFK.
Ebenfalls unerwähnt blieben 1951 Wehrdienstverweigerung bzw. Desertion. Heute, unter geänderten geopolitischen Bedingungen sind neue Typen von bewaffneten Konflikttypen entstanden. Sich der Waffenpflicht in einem völkerrechtswidrigen Konflikt zu entziehen, kann unter bestimmten Umständen sehr wohl asylrelevant sein. Da genügt es nicht, darauf zu verweisen, dass es ja nicht in der GFK stünde und daher bei der Flüchtlingsanerkennung keine Rolle spielen dürfe.
Eng damit im Zusammenhang steht auch die Frage von Bürgerkriegsflüchtlingen. Auch hier genügt nicht die verkürzte Darstellungsweise, wonach Krieg kein Asylgrund sei und Kriegsflüchtlinge sich von vornherein nicht als Konventionsflüchtlinge qualifizieren. Auch hier gilt es, den Einzelfall zu prüfen, und Elemente ethnischer, rassischer, religiöser oder politischer Verfolgung zu bewerten.
Eine Konvention ist nun einmal lebendiges Recht. Das Prinzip des Schutzes für Verfolgte kann nicht deswegen als überholt gelten, weil sich die Art der Verfolgung ändert. Denn Verfolgte gibt es immer noch und Schutz benötigen sie mehr denn je.

Uminterpretation des Textes
Nach Paragraph 1 der Genfer Flüchtlingskonvention findet der Ausdruck "Flüchtling" (....)" auf jede Person Anwendung, (....) die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will (....)". Kein Wort verlieren die Verfasser der GFK darüber, von wem die Verfolgung ausgeht.
Erstaunlicherweise lesen einige Staaten, allen voran Deutschland, dennoch aus der GFK heraus, daß die Verfolgung vom Staat ausgehen muß, wenn sie asylbegründend sein soll. Nicht-staatliche Verfolgung gilt demnach von vornherein als irrelevant. Personen, die von bewaffneten Milizen verfolgt werden, wie etwa in Algerien, oder Angehörige von Staaten, wo die staatliche Ordnung zusammengebrochen ist, wie Somalia, wären demnach von vornherein keine Flüchtlinge, weil sie nicht von staatlichen Institutionen bedroht werden.
Während also Staaten gerne Dinge in der GFK lesen, die nicht drinstehen, überlesen sie manchmal auch Passagen, die sehr wohl im Text enthalten sind. Als Asylgrund reicht nämlich schon die "Furcht vor Verfolgung" aus. Flüchtlingsbetreuer in ganz Europa bekommen immer mehr Verfahren zu Gesicht, wo vom Betroffenen geradezu Beweise für die stattgefundene Verfolgung verlangt werden. Bizarr ist die in Österreich oft übliche Begutachtung von Folterspuren durch Sachverständige. Dabei sollte schon die Furcht vor Folterungen ausreichen, damit jemand als Flüchtling anerkannt wird.

Ersatz der GFK durch andere Rechtsinstrumente
Die nachhaltigste Form des Schutzes im Aufnahmeland ist die Asylzuerkennung. Sie berechtigt zum (theoretisch) unbefristeten Aufenthalt, gibt Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen und räumt dem Flüchtling fast die gleichen Rechte ein, wie dem eigenen Staatsbürger. In Zeiten wachsender Fremdenfeindlichkeit räumen die Regierungen diesen umfassenden Schutz nur zögerlich ein.
Immer häufiger finden andere Rechtsinstrumente Anwendung, wie beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die eigentlich nur dort als Notbremse dienen sollten, wo die GFK nicht greift. Flüchtlingsschutz wird zu bloßem Non-Refoulement (nicht Abschieben in den Verfolgerstaat) degradiert, damit sich die Staaten nicht dem Vorwurf der Missachtung von Menschenrechtsstandards aussetzen müssen. Die mit dem Asyl einher gehenden sozialen Rechte werden den Schutzbedürftigen auf diese Weise vorenthalten.
Neben dem vollinhaltlichen Asylschutz haben sich in den neunziger Jahren weniger umfassende Formen der Flüchtlingsaufnahme etabliert, wie temporärer Schutz oder gar nur der Abschiebungsaufschub. Manchmal ist temporärer Schutz sinnvoll: Bei den Bosnienflüchtlingen ging es etwa darum, schnell und unbürokratisch Aufnahme zu schaffen, ohne das eigene Asylsystem durch individuelle Verfahren sinnlos über zu belasten. Auch wollten sich die Bosnier nicht - wie herkömmliche Flüchtlinge - den Rückweg in die Heimat verbauen. (Anerkannte Flüchtlinge dürfen bekanntlich nicht in ihr Herkunftsland reisen. Wenn sie das nämlich unbehelligt tun könnten, wäre damit bewiesen, dass sie gar nicht verfolgt werden.)
Nun aber gibt es einen europaweiten Trend, solche Mechanismen einer vorübergehenden Aufnahme nicht zusätzlich zum Asyl sondern statt dessen zu gewähren und auf diese Weise die GFK auch dort zu umschiffen, wo sie eigentlich Anwendung finden müsste, weil es sich um genuine Flüchtlinge handelt.

Die GFK umschreiben?
Zu sagen, dass die GFK ausgedient hat, das traut sich in dieser Unverblümtheit noch kein Politiker. Doch vor allem in den Industriestaaten mehren sich die Querschüsse gegen die Konvention. (Die armen Länder sind paradoxer Weise bei der Flüchtlingsaufnahme stets großzügiger als die reichen.) Begonnen wurde dieser Anti-GFK-Reigen ausgerechnet von Österreich in der Zeit seiner EU-Präsidentschaft 1997. Das Innenministerium veröffentlichte ein Thesenpapier, in dem die Frage gestellt wurde, ob das Asyl als Subjektives Recht noch sinnhaft wäre. Als ein Sturm der Entrüstung folgte, wurde das Papier zurückgezogen, doch bald darauf stieg der deutsche Innenminister Schily mit einem ähnlichen Gedanken nach und stellte das subjektive Recht auf Asylgewährung" in der EU in Frage.
Seither werden immer wieder Breitseiten gegen die Flüchtlingskonvention abgefeuert, zuletzt in Deutschland, Australien und Großbritannien. So schrieb der britische Premier Blair Anfang Mai in einem Gastkommentar in der "Times", man müsse ergründen, inwieweit die Konvention noch funktioniere und wie sie "verbessert" werden könnte.

Frischzellenkur für die GFK
Angesichts der Debatte über die Konvention rief UNHCR einen eigenen Diskussionsprozess ins Leben, die Globalen Konsultationen. Statt sich von der Debatte überrollen zu lassen, will das UN-Flüchtlingshilfswerk selbst das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Schließlich ist UNHCR von der UNO mit der Überwachung der Konvention beauftragt. Wer sonst wäre besser geeignet, über eine Frischzellenkur der großen Alten Dame wachen, um sicherzustellen, dass daraus kein GFK-Begräbnis erster Klasse wird.
Im Zuge der Globalen Konsultationen soll erörtert werden, welche Aspekte der aktuellen Weltflüchtlingslage von der Konvention nicht angemessen abgedeckt werden. Für diese Schutzlücken sollen zeitgemäße Lösungen gefunden werden. Die GFK soll also ergänzt, nicht abgeschafft werden. Voraussichtlich wird es um folgende Problemkreise gehen:
· Flüchtlingsschutz bei Massenfluchtbewegungen
· Die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Migration und Flucht
· Schutzlücken im gegenwärtigen Asylsystem der Staaten
· Komplementäre Formen der Flüchtlingsaufnahme
· Schutzbedürfnisse von Frauen und Kindern
Die Globalen Konsultationen sollen alle Partner im Asylsystem einbinden, Experten, politische Entscheidungsträger und nicht zuletzt die Flüchtlinge selbst.
Organisatorische Vorbereitungen und erste Expertentreffen zu Spezialthemen (der nicht-militärische Charakter von Flüchtlingen und Flüchtlingslagern; Massenfluchtsituationen; Asylaberkennung und Asylausschließungsgründe) fanden schon in Pretoria, Genf, Lissabon und Ottawa statt. Weitere Konferenzen auf allen Kontinenten werden folgen (Details zu den insgesamt 18 geplanten Veranstaltungen: Siehe www.unhcr.ch) Die beiden Höhepunkte der Reihe werden ein Treffen von Flüchtlingen in September in Frankreich sein sowie eine Konferenz aller zuständigen Minister im Dezember in Genf. Am Ende dieses Diskussionsprozesses sollte ein verbessertes, ergänztes Konzept des Flüchtlingsschutzes stehen, das die GFK komplettiert und für neue Herausforderungen des 21. Jahrhunderts rüstet.

[Melita H. Sunic, UNHCR - asylkoordination aktuell 4/2001]